Bildung in der digitalen Zukunft: Jetzt wird’s ganz konkret!

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Auf einem barcamp über bildende Berufe der Zukunft. Foto: Christoph Laib

Die guten Nachrichten fliegen uns um die Ohren: „Endlich werden Schulen digital“. Doch das Bildungssystem selbst verändert sich nicht. Es wird lediglich technisch aufgepimpt. Die Pädagogik ist immer noch die alte und speist sich aus dem überholten Mindset der Pädagogischen Hochschulen und ihrer Satelliten. Deren sakrosanktes Dreigestirn aus Lehre, Vermittlung und Didaktik ist aber nicht mehr gefragt. Jetzt geht es um Selbststeuerung und Selbstbestimmung. Warum das so ist, wird unter anderem hier eindrücklich & ausführlich analysiert.

Immer wieder werde ich gefragt: „Wie sehen denn Bildung und Schule in Zukunft aus? Skizzieren sie mal was! Werden sie konkret!“ Nun: Einerseits gibt es die Alternativen schon. Es gibt sie digital (udacity, udemy, coursera, edX & Konsorten), und es gibt sie analog. Alternative Lernprojekte und Lernorte holen auf. Freie Schulen sind im Kommen – gegen den Widerstand der öffentlichen Bildung in Deutschland und in der Schweiz, wo freie Schulen durch das staatliche Finanzierungs- und Zertifizierungsmodell gegängelt werden. Schließlich muss man in erster Linie die eigenen Institutionen bespielen.

Und auch die Klienten des Bildungssystems haben entgegen der Vorurteile, die das System gegen sie hegt, sehr klare Vorstellungen von guter Bildungsarbeit – nicht erst seit Greta Thunberg:

Was also zeichnet erfolgreiche Bildungsarbeit aus? Here we go:

Es gibt keine Fächer mehr

In Zukunft gibt es thematische Schwerpunkte und Anliegen, um die herum sich Interessierte gruppieren, mit dem Ziel, Lösungen zu erarbeiten. „Fächer“ sind dabei nur hinderlich. Lernen bedeutet reale Probleme lösen, nicht schulisch konstruierte: Herausforderungen, vor denen ich und wir stehen: ökologische, soziale, technologische und wirtschaftliche. Es geht nicht mehr um das, was in Lehrplänen steht. Menschen lernen vielmehr lebenslang in Projekten – und genau das lernen sie an den neuen Lernorten. Bedarfs- und lösungsorientiert. Ausschließlich an echten Themen.

Es gibt keine Klassen mehr

Projektgruppen formieren sich anhand aktueller, relevanter Themen, aufgrund selbstgewählter Aufgaben und Projekte. Lerngruppen formieren sich mal spontan, mal hinsichtlich Neigung und Neugier, dann wieder aufgrund eines bedarfsorientierten Zieles, das selbstformuliert ist. Jederzeit aber steht die Entscheidung des lernenden Menschen im Mittelpunkt, wo und mit wem er und sie woran und wie lange arbeiten möchte – im Sinne von „communities of practice“, die sich in Empowerment und wirklicher Demokratie üben. Sie leben, lernen und arbeiten in „Kreisen“ in Anlehnung an das Konzept der Sociocracy – das von lehrenden Berufen vor allem deshalb abgelehnt wird, weil es Selbstverantwortung und Selbststeuerung einfordert, die dem traditionellen Schulkonzept widersprechen, denn Pädagogik bedeutet vor allem: für andere denken, für andere organisieren und für andere entscheiden.

Es gibt keine Jahrgänge mehr

„Eines der unglaublichsten Merkmale des jetzigen Schulsystems ist, wie Kinder nach dem Alter getrennt werden. … Es ist ein Fetisch, der auf der Auffassung beruht, daß sich alle Leute im Gleichschritt entwickeln würden, in der gleichen Art, Monat für Monat, Jahr für Jahr – eine Theorie, die allen Erfahrungen mit jungen und älteren Kindern völlig widerspricht. … Altersmischung ist der erste Schritt in Richtung eines wirklichen Lehrverhältnisses“ (Quelle/Seite 35)

Menschen lernen voneinander. In jedem Alter. Den Wert der „Altersmischung erfasste wahrscheinlich der russische Psychologe Lew Wygotski erstmals vollständig. Von ihm stammt der Begriff dafür: ‚Zone der nächsten Entwicklung’.“ (Quelle) Altersdurchmischung vereinfacht und garantiert das Hineinwachsen in Selbstorganisation und Selbstverantwortung. Unterschiedliche Formen und Stufen der Kompetenzentwicklung inspirieren, ergänzen und skalieren sich gegenseitig.

Es gibt keinen Unterricht mehr

Unterricht ist immer fremdgesteuert. Lernen immer selbstgesteuert. Deshalb sind alle Lernprozesse in Zukunft strukturell selbstorganisiert. Lernen und Bildung sind nicht mehr institutionell organisiert sondern dezentral. Lernende Menschen finden sich zu Projektgruppen zusammen. Sie organisieren, erschaffen und benutzen die Infrastruktur, die sie benötigen. Das Ressourcenmanagement ist selbstorganisiert, auch bezüglich der benötigen Informationen.

Abbildung: Merkmale lebendiger & nachhaltiger Lernprozesse:

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Es gibt keine Prüfungen mehr

Die beste Prüfung ist die, die sich nicht wie eine anfühlt. Dann nämlich werde ich zeigen, was ich wirklich kann. Deshalb gibt es vielfältige, an den jeweiligen Projekten und ihrem Bedarf ausgerichtete Formen der Dokumentation und der Präsentation im Sinne von Auswertung  & Reflexion. Menschen lernen sich selbst in Prozessen kennen und einschätzen. Sie holen sich über „appreciative inquiry“ Feedback, um die eigenen Entwicklungsprozesse zu gestalten, zu reflektieren und zu steuern. Leistungen werden kollaborativ erbracht. Individuelle Kompetenz & Expertise wird in selbstorganisierten, digitalen Portfolios dokumentiert.

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Es gibt keine Noten mehr

Noten gehören zum Schlimmsten, was Schule je erfunden hat. Ihr Wert und Nutzen ist längst widerlegt. Stattdessen gibt es selbstgesteuerte (!) Feedback-Systeme, die mir ermöglichen, Selbst- und Fremdeinschätzung für meine eigene Entwicklung (mit zunehmendem Alter auch „Professionalisierung“) zu nutzen: Stärkenorientiert, potenzialorientiert, bedarfsorientiert. Bedarfe und Bedürfnisse zu erkennen, einzuschätzen und zu vernetzen, ist eines der wichtigsten Anliegen dieser Prozesse, die mehr und mehr auch digital designt sind.

Es gibt keine Lehrpläne mehr

Lernen hat keine Inhalte. Flaschen und Schränke haben Inhalte. Dieses Gegenstands-Denken wird einem modernen Verständnis von Lernen nicht gerecht. Einem Lernprozess sind keine Inhalte vorgegeben und die Ziele werden in offenen Formen und Feedbackschleifen definiert, angepasst, verworfen und wieder neu gefunden. Das „Curriculum 4.0“ ist ein selbstorganisierter und ständig adaptierter Lernplan. Er reduziert sich auf z.B. solche Fragen:

a.    Was wollen wir erreichen?

b.    Warum wollen wir es erreichen?

c.    Wie wollen wir es erreichen?

d.    Was müssen wir dazu können?

e.    Wie kommen wir dazu, das zu können?

f.     Wie sieht Hilfe dafür aus?

g.    Wie holen wir uns die?

Es gibt keine Lehrer mehr

„Den Lehrer, Dozenten oder Trainer, der im Frontalunterricht Wissen „vermittelt“, braucht man nicht mehr. Die Aufgabe, Wissen aufzubauen, erfüllt zukünftig jeder Lerner selbstorganisiert und zielgerichtet für seine persönlichen Bedürfnisse in innovativen Lernarrangements. … Benötigt werden hingegen Gestalter von Ermöglichungsrahmen der Kompetenzentwicklung und entsprechende Entwicklungsbegleiter“ (Erpenbeck, J./ Sauter, W. [2016]. Stoppt die Kompetenzkatastrophe! Wege in eine neue Bildungswelt. Berlin–Heidelberg: Springer, S. 101).

Ein wunderbares Beispiel für ein Lernkonzept ohne das klassische Lehren stellt Ricardo Semler hier vor:

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Zum Video

Die Funktion des Lehrens, von der das schulische Lernen immer nur eine Ableitung sein kann, und die Aufgaben der „Informationsvermittlung“, der Benotung, Prüfung, Selektion werden nicht mehr gebraucht. Didaktische und pädagogische Expertise sind nicht mehr gefragt. Gefragt sind Kompetenzen u.a. in den Bereichen systemisch-lösungsorientiertes Coaching, soziale Beratung, Mediation, Gestaltpsychologie, gewaltfreie Kommunikation, Moderation, (z.B. TZI-)Gruppenleitung, Gender- und Diversity-Kompetenz u.v.m.

Stephen Downes: „Ich wurde über die Jahre hinweg von unterschiedlichen Menschen inspiriert: John Lennon, Doug Gilmour, Neil Young, Arsinio Hall, Jose Bautista. Das sind meine ‚Rollen-Vorbilder‘. Das sind (unter anderen) die Menschen, die mich inspirieren. Nicht einer von ihnen ist Lehrer. Ergo: Niemand braucht Lehrer, um inspiriert zu werden. I don’t think that the field of education understands, in general, how much of what it does is also done by parents, role models, friends, professional associates, and more. Wenn die Kernfunktion des Vermittelns von einer Maschine ausgeführt werden kann, dann können die unterstützenden Funktionen wie Motivation, Inspiration, Sozialisierung, etc. von jeder anderen Person in der Gesellschaft ausgeführt werden. And, indeed, should be performed by everyone else in society.“

Es gibt kein Papier mehr

Das Informationsmanagement ist digital. Es gibt keine pädagogisch-didaktischen „Lehrbücher“. Alles ist open source. Papier findet nur als kreative Materie statt.

Lernen findet in Zukunft (wieder) ohne pädagogisch-didaktische Zwischenwirte statt. Menschen in jedem Alter entwickeln ohne pädagogisch-didaktische Umwege die Kernkompetenzen des 21. Jahrhunderts.

„Die notwendigen Veränderungen der Denk- und Handlungsweisen aller Beteiligten an Lernprozessen wird nur möglich sein, wenn sich die Strukturen grundlegend verändern, um die Kompetenzkatastrophe zu überwinden.“ (Erpenbeck, J./ Sauter ebd.)

Wenn Sie’s noch konkreter möchten, dann empfehle ich Ihnen, hier weiterzulesen: 

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Autor: Christoph Schmitt PhD, Bildungsdesigner, Colearner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

18 Kommentare zu „Bildung in der digitalen Zukunft: Jetzt wird’s ganz konkret!“

  1. Thomas fasst seine Gedanken und Ideen sehr stichhaltig zusammen. Seine konkreten Anwendungsbeispiele, wie Slack oder den Einbezug von Wissensdatenbanken sind dabei genauso wertvoll, wie die Anregung für Lehrer neuen Technologien gegenüber stets offen, neugierig und optimistisch eingestellt zu sein!

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